Manchmal liefert die Realität die besten Satiren – oder wie die NDR-Sendung extra 3 es nennt: „Realer Irrsinn“. In einem aktuellen Beispiel trifft es das deutsche Bauwesen – wieder einmal. Ein Wohngebäude soll entstehen, links davon: eine noch unbebaute Gewerbefläche, rechts: eine stark befahrene Straße. Und dann beginnt das akustische Drama.
Denn in der Bauleitplanung ist die Lärmsituation laut Vorschrift – konkret der DIN 18005 – zu bewerten. Dort sind für die verschiedenen Lärmarten Orientierungswerte verankert, die bei der Bewertung heranzuziehen sind. Da im Falle von Gewerbelärm auf bau- oder immissionsschutzrechtlicher Ebene die TA Lärm heranzuziehen ist, wird diese häufig bereits in der Bauleitplanung berücksichtigt. Und dort sind Immissionsrichtwerte definiert, die nicht optional, nicht situationsabhängig, sondern verbindlich sind. Auf der Seite zum Gewerbe muss der Planer daher sicherstellen, dass vor dem geöffneten Fenster die zulässigen Immissionsrichtwerte eingehalten werden. Die Konsequenz: massive Schallschutzmaßnahmen, wie Doppelfassaden, Festverglasungen oder Grundrissverschiebungen. Und das, auch wenn noch niemand weiß, wie laut die Gewerbebetriebe mal sein werden und zu welchen Uhrzeiten. Zumal es häufig die Nachtzeit ist, die auf Planungsebene konfliktbehaftet ist und die genannten Maßnahmen erfordert. Aber nicht alle Betriebe üben ihr Gewerbe auch zur Nachtzeit aus.
Doch nun zur Straßenseite – und damit zur Pointe: Dort gilt zwar auch die DIN 18005 zur Bewertung, jedoch bleibt es wörtlich bei der Anwendung der Orientierungswerte. Hier wird nicht mit Verbindlichkeit, sondern mit „Abwägung“ gearbeitet. Frei nach dem Motto: Wenn der Bewohner das Fenster zur Straße freiwillig öffnet, dann ist das sein Problem. Lärmbelastung? Selbstgewählt. Überschreitung? Tolerierbar. Der Gesetzgeber sagt sinngemäß: Der Mensch sei frei in seiner Entscheidung, ob er sich dem Verkehrslärm aussetzen möchte. Natürlich alles spitz formuliert.
Für Architekten und Bauphysiker ergibt sich aus dieser asymmetrischen Logik ein schallendes Paradox: Auf der lauteren Straßenseite genügen Schallschutzfenster, auf der leiseren Gewerbeseite hingegen sind umfangreiche Schutzmaßnahmen Pflicht, die ein normales geöffnetes Fenster verhindern. Ergebnis: Natürlich belüftbar ist die Wohnung über die laute und dreckige Straßenseite, wohingegen Richtung nächtlich ruhiger Gewerbefläche eine Festverglasung ein Öffnen der Fenster hindert. Das alles ist fachlich schwer vermittelbar. Denn wie erklärt man dem Bauherrn, dass er auf der ruhigeren Seite kein Fenster öffnen darf und vor allem nicht selbst entscheiden kann, wann er das Fenster geschlossen halten möchte, auch wenn es auf der Gewerbefläche mal rund geht?
Tatsächlich mit geltendem Recht. Der Schutz vor Verkehrslärm wird über das Abwägungsgebot im Bauplanungsrecht und die DIN 18005 geregelt, während Gewerbelärm zwar auch anhand der DIN 18005, zudem aber mit den harten Immissionsrichtwerten der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) zu bewerten ist. Das führt zu einer bürokratischen Schieflage, in der der gesunde Menschenverstand oft auf der Strecke bleibt.
Fazit: Schallschutz bleibt ein entscheidender Faktor im Planungsprozess – aber auch ein Paradebeispiel dafür, wie unterschiedlich die Rechtslage für gleich laute Quellen sein kann. Die Lösung? Vielleicht ein Update der Regelwerke. Oder zumindest mehr Spielraum für praxisorientierte Entscheidungen – bevor der nächste „reale Irrsinn“ aus dem Bauamt in die Mediathek wandert.